"Es besteht kein Zweifel, dass Kreativität die wichtigste menschliche Ressource überhaupt ist. Ohne Kreativität gäbe es keinen Fortschritt und wir würden ewig die gleichen Muster wiederholen."
Edward de Bono
Wenn wir darüber diskutieren wollen, ob Cannabis die menschliche Kreativität bereichern kann, wird oft vergessen, wie wichtig diese Frage eigentlich ist. Kreativität ist eine der wichtigsten menschlichen Ressourcen überhaupt, und zwar nicht nur für Künstler oder Schriftsteller. Wir alle sind ständig gefordert, kreative Lösungen für komplexe Probleme zu finden, mit denen wir in unserem Leben zu tun haben, sei es im Privatleben, in unseren Beziehungen mit anderen Menschen oder auch im Geschäftsleben.
Die Frage, welche Rolle psychoaktive Substanzen wie Cannabis dabei spielen können, unsere Kreativität zu bereichern, hat eine viel größere Relevanz, als dies üblicherweise gesehen wird. Wissenschaftliche Untersuchungen gerade in Bezug auf Cannabis und Kreativität sind aber leider eine eher marginale Erscheinung und werden kaum institutionell gefördert. Dementsprechend sehen wir auch methodologisch eher Ansätze, die kaum relevante Daten liefern, weil sie schon von Beginn an fehlkonstruiert sind.
Wir unterschätzen aber nicht nur die individuelle und gesellschaftliche Relevanz von Kreativität; in der Regel unterschätzen wir auch die Komplexität kreativer Tätigkeiten und Prozesse.
Verschiedene kreative Tätigkeiten benötigen verschiedene komplexe Fähigkeiten
Sehen wir uns zwei kreative Tätigkeiten an, um zumindest einen kurzen Eindruck davon zu haben, wie viele komplexe kognitive und motorische Fähigkeiten involviert sind. Wenn ich auf der Bühne in einer Band spiele und ein Trompeten-Solo improvisiere, muss ich motorisch eine schnelle Hand-Augen-Koordination haben, um die Trompete spielen zu können. Dazu sind sensorische Fähigkeiten wichtig: ich muss den Tastendruck an meinen Fingern und die Trompete an meinen Lippen spüren, um bestimmte Timbres zu erzeugen. Ich muss im Gedächtnis auf eine große Datenbank von Melodien zurückgreifen und neue Wege finden, Harmonien zu bilden. Gleichzeitig brauche ich eine schnellen Flow von Assoziationen, bei denen ich eine neue Melodie erfinde bzw. eine Variation über erinnerte Melodien spiele. Meine Zeitwahrnehmung spielt eine Rolle, da Rhythmik eine Rolle spielt.
Viele dieser Fähigkeiten spielen im kreativen Prozess des Schreibens eines Gedichtes keine Rolle; hier habe ich mehr Zeit, meine motorische Koordination spielt fast keine Rolle - ich kann das Gedicht auch diktieren - und ich muss nicht schnell assoziieren und parallel dazu andere Tätigkeiten ausüben.
Außerdem gibt es bei kreativen Tätigkeiten verschiedene Phasen, in denen verschiedene Fähigkeiten eine Rolle spielen; wenn ich ein Gedicht schreibe, könnte ich zum Beispiel erst ein Phase haben, in der ich ein Brainstorming zum Thema des Gedichtes habe und zur Stimmung, vielleicht erinnere ich mich an ein Gefühl aus der Kindheit, dann kommt eine Phase der sprachlichen Ausformulierung, der Bildung von Metaphern, dann eine Phase der Überprüfung, in der ich mehr auf Details und Rhythmik achte.
Man kann sich leicht denken, dass ein High bei manchen dieser Tätigkeiten oder auch bei einzelnen Phasen von Tätigkeiten helfen kann, bei anderen aber eventuell auch störend wirkt, je nachdem, wie es bestimmte mentale Fähigkeiten beeinflusst.

Das multidimensionale High
Wichtig ist, dass wir uns nicht nur vergegenwärtigen, dass verschiede kreative Prozess eine Konzertierung verschiedener komplexer kognitiver, perzeptueller und motorischer Fähigkeiten sind. Wir müssen uns auch klar darüber sein, dass auch das Cannabis High multidimensional ist und viele dieser Fähigkeiten unterschiedlich beeinflussen kann. An dieser Stelle wird wiederum komplett von Wissenschaftlern unterschätzt, wie komplex das High ist in Bezug auf die vorübergehenden Veränderungen in bewussten Prozessen.
Bereits vor über 25 Jahren, als ich begann, das Cannabis High intensiver zu erforschen, faszinierten mich dessen vielschichtige Wirkungen auf unser Bewusstsein. Darunter sind: eine Hyperfokussierung der Aufmerksamkeit, aber auch die Veränderung von Aufmerksamkeitsmustern, die Intensivierung der Sinneseindrücke, das verstärkte Erleben des Hier und Jetzt, ein oft schnelles assoziatives Denken, ein oft verbessertes episodisches Gedächtnis, also Erinnerungen an lange vergangene Situationen.
Manchmal kommt es aber auch zu einer Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses, was sich darin äußert, dass wir zum Beispiel im Gespräch den Faden verlieren. Viele Nutzer berichten darüber hinaus von einer veränderten Zeitwahrnehmung, einem intensiveren und detaillierteren Körpergefühl, einer intensivierten Fähigkeit der Imagination. Bei einem starken High kann es zu synästhetischen Erfahrungen kommen, etwa wenn das Hören von Musik bei geschlossenen Augen mit Farbwahrnehmungen einhergeht. Ebenso wird von Nutzern eine verbesserte Mustererkennung, eine Bereicherung von Introspektion und von empathischem Verstehen während eines Highs beschrieben.
Die Surfboard-Metapher
Ich habe in meinen Publikationen immer wieder betont, dass es wichtig ist, Cannabis wie ein Werkzeug zu betrachten; um genauer zu sein, habe ich es mit einem Surfbrett verglichen, was gewissermaßen auch ein Werkzeug ist, um großartige Erlebnisse auf Wellen zu erzeugen. Nur wenn ich ein bestimmtes Wissen und Können habe, um dieses Werkzeug anzuwenden, werde ich das Potenzial des Surfboards nutzen können.
Wenn wir wissen wollen, ob Cannabis unsere Kreativität bereichern kann, kann die Frage auch nur die sein, ob es ein gutes Werkzeug dafür ist. Denn eines ist klar: ein Cannabis High macht mich ganz sicher nicht automatisch kreativer. Es hängt von sehr vielen Faktoren ab, ob ich meine kreative Leistung mit Cannabis steigern kann: von der Auswahl der Sorte, der Einnahmeform, der Dosis, meiner Umgebung und meiner Verfassung ("(mind)set and setting") und von meiner Fähigkeit, zu lernen, wie ich eine bestimmte Intensität eines Highs für eine bestimmte Phase einer bestimmten kreativen Fähigkeit nutzen kann. Eventuell hilft mir ein starkes High für die Imagination einer erfundenen Szene, um diese später zu malen; allerdings macht mich eventuell dieses High dann nicht viel besser darin, motorisch die Pinselführung so zu gestalten, dass meine Arbeit nicht an Qualität verliert.
Genau wie ein Surfer lernen muss, verschiedene Typen von Surfboards in verschiedenen Wellen- und Windsituation je nach eigenen Fähigkeiten einzusetzen, sollte der Cannabisnutzer die "Kunst des Highs" erlernen, wenn er Cannabis sinnvoller einsetzen möchte. (Siehe dazu mein recht minimalistischen Guide Die Kunst des Highs. Wie wir mit Cannabis unser Bewusstsein bereichern können.)
Fazit
Es ist ein verkürzter und wenig vielversprechender Forschungsansatz, Cannabis Nutzer einfach Tests für divergentes Denken auszusetzen. Kreative Tätigkeiten sind laut modernen kognitiven Theorien über Kreativität weit mehr als nur divergentes Denken; und diese Tests sind nicht für Menschen in veränderten Bewusstseinszuständen konzipiert.
Das Cannabis High beeinflusst unser Bewusstsein auf multidimensionale Weise und kann viele perzeptuelle, kognitive und motorische Fähigkeiten betreffen; dies ist nicht überraschend, wenn man weiß, wie vielfältig unser Endocannabinoid System Funktionen in unserem Körper und unserer Psyche steuert (link zu Artikel Endocannabinoid-System). Außerdem hängt es von vielen Faktoren ab wie zum Beispiel Dosis, Set und Setting und weiteren Einflüssen, wie genau kognitive und andere Fähigkeiten durch ein High beeinflusst werden.
Ein besserer Forschungsansatz wäre, was ich den "langen Weg" nenne: Wir müssen zuerst mit einer interdisziplinären Anstrengung zu einem besseren Verstehen kommen, wie genau das Cannabis High - beziehungsweise auch verschiedene Sorten von Cannabis - eine ganze Reihe von mentalen Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Imagination und Mustererkennung verändern können. Erst so gelangen wir zu einem vertieften Verständnis, wie sich Cannabis auf unsere kreativen Prozesse im Einzelnen auswirken kann - sowohl positiv als auch negativ.
Quellen
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5. Marincolo, S. (2021). Die Kunst des Highs: Wie wir mit Cannabis unser Bewusstsein bereichern können. Tredition.
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8. Schafer, G., Feilding, A., Morgan, C. J. A., Agathangelou, M., Freeman, T. P., & Curran, H. V. (2012). Investigating the interaction between schizotypy, divergent thinking and cannabis use. Consciousness and Cognition, 21(1), 292-298. https://doi.org/10.1016/j.concog.2011.09.013